Souverän entscheiden und führen: Was Führungskräfte von Schiedsrichtern lernen können

Deniz Aytekin, Deutschlands bekanntester Schiedsrichter, entscheidet schnell, unter Druck und oft ohne ausreichende Informationen. Auf dem Dialog erklärte er den Teilnehmern, was Führungskräfte von Schiedsrichtern lernen können.

05. Dezember 2023
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Er pfeift die ganz großen Spiele, ist aber auch erfolgreicher Speaker, Unternehmer, Gründer und Buchautor. Mit seiner unnachahmlich menschlichen, ehrlichen und sympathischen Art begeisterte Deniz Aytekin alle Teilnehmenden des DIALOGs in Dortmund. Seine wissenschaftlich gestützten Strategien und Ratschläge zur Entscheidungsfindung – anwendbar auch unter höchstem körperlichen und psychischen Druck – waren echter, übertragbarer Mehrwert.

Vom unbeliebtesten Schiedsrichter des Jahres 2011 zum DFB-Schiedsrichter des Jahres 2019 & 2022: Deniz Aytekin ist schonungslos ehrlich und herrlich direkt. Man spürt, dass er jedes Wort auch so meint und persönlich lebt. Gleich vorweg nennt er die zwei ärgsten Feinde guter Entscheidungen: die Angst vor Ablehnung und mangelnde Faktenlage.

»Um diesen beiden zu begegnen, ist gute Vorbereitung ein Muss«, lautet der Rat des Bundesliga-Profis. Schon sein Trainer Collina – der charakteristische Schiedsrichter mit dem markanten Glatzkopf – legte größten Wert darauf. Mit den Worten: »You have to be prepared«, trieb er seine Schüler dazu an, mit gründlicher Vorbereitung mehr Informationen, Struktur, Selbstvertrauen und Flexibilität zu erreichen. Bei 10 bis 12 Kilometern Laufpensum pro Spiel in den 80 Prozent des Maximal-Pulsbereichs heißt das natürlich auch sechs bis acht Mal die Woche trainieren – denn mit seinen 45 Jahren muss Aytekin mit jeder Menge gut trainierter, junger Profifußballer mithalten.

Trotzdem geht er in jedem Spiel an seine Grenzen und muss Fehlentscheidungen, emotional aufgeladene Kritik an seiner Leistung und öffentlich zur Schau gestellte Anfeindungen (von Spielern, Trainern, Fans oder Medien) mit einkalkulieren. Seine Entscheidungsstrategien helfen ihm dabei – und sind tatsächlich eins zu eins im eigenen Apothekenbetrieb anwendbar. Zur visuellen Unterstützung zeigte der bekannteste Schiri Deutschlands (GfK Studie von 2020) spannende Szenen aus Bundesligaspielen.

1. Wo ist mein nächstes Problem?

»Die Fähigkeit, zu erkennen, was als nächstes passiert, und dann angemessen zu reagieren, ist ein entscheidender Aspekt, um bessere Entscheidungen treffen zu können«, so Aytekin. »Mit der Antizipation von typischen Ereignissen oder Situationen können wir strategisch handeln, anstatt nur die aktuellen Umstände einzubeziehen.« Und Laufwege spart das natürlich auch! So kann Aytekin vorausahnen, was wo passieren wird und genau hinschauen. Denn nicht immer ist das Hauptgeschehen dort, wo der Ball rollt. 

2. Automatismen gegen kognitive Müdigkeit

Bei ungefähr 250 Entscheidungen pro Spiel und einer Zeitspanne von 0,8 Sekunden, um zu entscheiden, kommt Deniz Aytekin nicht ohne das Erkennen von bestimmten Mustern oder typischen Situationen aus. Bei Situation A kann er so automatisch mit B, C oder D reagieren. »Alles, was länger als 0,8 Sekunden dauert, wird im Spiel als eine unsichere Entscheidung meinerseits wahrgenommen«, weiß der Profi. Automatismen, die er durch jahrelange Erfahrung und Schulung entwickelt hat, sind für ihn und andere Entscheider von unschätzbarem Wert.

3. Achten Sie auf die Zusatzinformationen

Die unklare Situation vor der Ecke ist schwer erkennbar, sogar in der Zeitlupe und aus verschiedenen Blickwinkeln. Wer war zuletzt am Ball? Da Aytekin nicht überall zugleich sein kann, achtet er in jeder Situation verstärkt auf Kleinigkeiten und Details: »Die Richtung, in die der Ball rollt, ist in dieser Situation das eine Detail, das ich für meine Entscheidung brauche.« Auch atmosphärische Störungen, wie zum Beispiel die Lautstärke in einer Kantine, sind äußerst wichtig.

4. Körpersprache, Gestik & Mimik

Langsamer werden, ein Bein schleifen lassen, hinwerfen, aufstehen, Arme hochreißen und der sofortige schuldbewusste Blick zum Schiri. Das typische »Schwalben«-Verhalten ist für den Schiri ein klarer Fall: »Ein Pokerface aufzusetzen, schafft der Mensch erst nach 500 Millisekunden, davor zeigt er quasi sein wahres Gesicht.« Achten Sie deshalb auch auf die Körpersprache und Mimik Ihrer Mitarbeiter und Kollegen vor einer Entscheidung.

5. Klare Aufgabenverteilung

»Wenn jedes Teammitglied seine Rolle und Aufgabe versteht, kann es ohne Angst seine spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen, um relevante Informationen in einer Entscheidungssituation zu liefern«, rät Aytekin. Der Schiedsrichter achtet beispielsweise auf die Beine, der Assistent auf den Oberkörper. Der Zustand psychologischer Sicherheit, eine positive Fehlerkultur und angstfreie Kommunikation sind dafür absolut notwendig. Wenn Mitarbeiter Fehler wahrnehmen, sich aber nicht trauen, dies offen zu kommunizieren, fehlen Ihnen wichtige Informationen. Fehler sind Lernerfahrungen.

Weitere wertvolle Aspekte, die den Prozess der Entscheidungsfindung fördern, sind:

  1. Als Führungskraft auch Verantwortung für Fehler zu übernehmen, schafft mehr Vertrauen im Team.
  2. Verantwortung an Teammitglieder abgeben.
  3. Wertschätzende und menschliche Führung schafft Akzeptanz und Anerkennung.
  4. Schwierige Entscheidugen individuell auf Augenhöhe erklären und auf die Bedürfnisse jedes Beteiligten achten.
  5. Schwierige Entscheidungen kommunikativ vorbereiten: »Wer leidet unter meiner Entscheidung?«
  6. Entscheidungen und Werte authentisch vorleben.

 

Führen. Entscheiden. Menschlich bleiben. Deniz Aytekins persönliches Motto überträgt sich eins zu eins auf den eigenen Betrieb. Empathie, Respekt und Ehrlichkeit (»Ich hatte bisher noch nie ein fehlerfreies Spiel.«) sind die klaren Sieger sowohl auf dem Platz als auch im eigenen Betrieb. Danke, Herr Aytekin, für diese herausragende Leistung! Mehr Infos unter www.denizaytekin.de